Seit Wochen protestieren Studenten in Serbien gegen die Regierung von Aleksandar Vucic. Der Auslöser waren die Todesopfer bei einem Einsturz eines Bahnhofdachs. Die Proteste breiten sich aus und fordern Gerechtigkeit und Transparenz. Vucic sieht in den Proteste die Hand ausländischer Instanzen.
Serbien s Protestbewegung setzt den Autokraten Vucic unter Dauerdruck. Demonstrierende Studenten riefen in Belgrad zum Generalstreik aus. Und ein Nachlassen der seit Monaten andauernden Proteste findet zum Leidwesen der Regierung noch immer nicht statt. Mit Megafonen und Trillerpfeifen haben sich Hunderte Studenten auf der Strasse versammelt. Und doch: kein Ton. Über dem Meer aus neongelben Warnwesten liegt eine gespenstische Stille.
Erst als fünfzehn Minuten vorüber sind, bricht es aus der Menge heraus, begleitet von Pfiffen und in die Luft gestreckten Fäusten: «Streik!» Das Land soll lahmgelegt werden, bis die Regierung den Protestierenden zuhört. Die obligatorische Schweige-Viertelstunde ist zum täglichen Anblick geworden. Damit wollen die Studenten an die 15 Opfer erinnern, die beim Einsturz eines Vordachs am Bahnhof von Serbiens zweitgrösster Stadt Novi Sad ums Leben kamen. Seit Wochen gehen Studenten in Serbien dafür auf die Strasse. Das Unglück im vergangenen November brachte laut Beobachtern eine «Zeitenwende» für das EU-Beitrittskandidatenland. Das Betongebäude aus Titos Zeiten war erst im Sommer 2024 nach Umbauarbeiten durch ein chinesisches Konsortium neu eröffnet worden. Regierungskritiker vermuten unfachmännische Arbeit und kritisieren die strikte staatliche Geheimhaltung rund um den Deal. Im Dezember kam es infolge des Einsturzes zu den grössten Protesten in der Geschichte Serbiens. Allein in Belgrad riefen an die 100’000 Serben mit rot angemalten Händen: «Korruption tötet!» Für gestern Freitag hatten die Studenten zum Generalstreik in Serbien aufgerufen. Viele Restaurants, Supermärkte und Museen blieben leer, viele Schulen geschlossen. Bereits in den vergangenen Tagen solidarisieren sich immer mehr Berufsgruppen mit den Jugendlichen: Bauern, Anwälte, Uni-Professoren und Lehrer. «Anders als unsere Regierung, von der wir uns immer noch ungesehen und ignoriert fühlen», erzählt ein Student dieser Zeitung; er will namentlich nicht genannt werden. Unter einem Streik-Banner vor der Philosophischen Fakultät in Belgrad richtet er einen Appell an Staatspräsident Aleksandar Vucic: «Bitte arbeiten Sie endlich mit uns zusammen. Wir wollen Gerechtigkeit. Die Staatsanwälte müssen aktiv werden, unsere Gesetze müssen funktionieren.» Auch in Novi Sad, der Stätte der Bahnhofskatastrophe, gingen am Freitag mehrere tausend Personen auf die Strasse. Wenige Wochen nach dem Einsturz kam es zu elf Festnahmen. Unter den Verhafteten war auch der serbische Bau- und Infrastrukturminister Goran Vesic, der auf wachsenden Druck zurückgetreten war. Inzwischen ist Vesic wieder auf freiem Fuss. «Der Rücktritt eines Funktionsträgers erfüllt in keiner Weise unsere Forderungen», so ein Student bei den jüngsten Protesten. Er fordert, dass die Namen der Verantwortlichen für die Umbauarbeiten in Novi Sad veröffentlicht werden. Ebenso wollen die Studenten die Herausgabe der Dokumente um das Bauprojekt, welche die Regierung bisher nur teilweise veröffentlichte. Die Anklagen gegen Studenten, die im Zuge der Proteste verhaftet wurden, müssten fallengelassen werden. Unter Belgradern herrscht Sorge: Zusehends begleitet Gewalt die Proteste. Die Angst vor einer Eskalation ist gross. Allein in den vergangen zwei Wochen wurden Studenten mit Flaschen beworfen, geschlagen und eine Studentin absichtlich von einem Auto angefahren. Unterdessen erklärt Populist Vucic in den von ihm kontrollierten Boulevardmedien: «Ausländische Instrukteure» seien für die Proteste verantwortlich. Er wittert eine Verschwörung. Den Aufstand werde seine Regierung «nur bis zu einem gewissen Punkt» tolerieren. Sie steht schon lange in der Kritik, zunehmend autoritär durchzugreifen. «Unrecht regiert nie ewig»: Die blutverschmierte rote Hand ist ein Symbolzeichen der Proteste in Serbien gegen die Regierung Vucic geworden. Seit längerem gärt die politische Stimmung in dem Balkanland. In den vergangenen Jahren kam es wiederholt zu Massenprotesten: gegen Gewalt an Schulen, einen umstrittenen Lithium-Deal mit der EU sowie manipulierte Wahlen. gab Vucic im Mai 2023 den Parteivorsitz ab, um Druck aus der sich formenden Protestbewegung rauszunehmen. Auch diesmal habe die Vucic-Regierung gehofft, dass die Studentenproteste innerhalb weniger Wochen verblassen. «Aber irgendwie haben die Studenten es geschafft, das Feuer am Brennen zu halten», stellt Nemanja Todorovic Stiplija fest. Er ist Chefredakteur des Informationsportals European Western Balkans (EWB) in Belgrad. Dem Analysten zufolge stamme der Elan der Proteste von dem Generationswechsel in Serbiens postsozialistischer Gesellschaft. So kontrolliere Vucics Serbische Fortschrittspartei (SNS) weite Teile des serbischen Alltags – von der Justiz, über Medien bis zur Verwaltung in jedem noch so kleinen Dorf. Die Jungen wollten das nicht länger akzeptiere
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