Kinderarzt Oskar Jenni kritisiert den frühen Fremdsprachenunterricht und fordert eine Entlastung von schulischen Druck auf Kinder. Jenni betont die Bedeutung von individueller Förderung und die negativen Auswirkungen von Leistungsdruck auf die psychische Gesundheit von Kindern.
Die Politik streitet über die Abschaffung des Französischunterrichts auf der Primarstufe. Kinderarzt Oskar Jenni plädiert für eine Entlastung der Schülerinnen und Schüler. Er betont, dass Kinder Sprachen nicht automatisch lernen und dass individuelle Unterschiede oft unterschätzt werden. Zudem stellt er einen Zusammenhang zwischen erhöhtem Schuldruck und psychischen Erkrankungen fest. Im Interview plädiert er für eine Entlastung der Kinder in der Schule.
Das frühe Fremdsprachenlernen beruht auf zwei Missverständnissen: Erstens wird oft angenommen, dass Kinder Sprachen in der Kindheit besonders leicht lernen. Doch das gelingt nur, wenn sie wirklich in eine Sprache eintauchen – sie regelmäßig hören und sprechen. Kinder lernen zwar intuitiver, aber ohne «Sprachbad» bleibt der Lernerfolg begrenzt. Jugendliche hingegen setzen bewusstere Lernstrategien ein und lernen damit effizienter. Es wird oft angenommen, dass alle Kinder eine Fremdsprache mit einer gezielten Förderung gleichermaßen gut lernen können. Doch das stimmt so nicht. Es gibt bei der Sprachentwicklung – ebenso wie beispielsweise bei der motorischen Entwicklung – sehr große Unterschiede bei Kindern: Die einen sind begabter, die anderen weniger. Die Sprachbegabung ist bis zu einem gewissen Grad angeboren. Das Lernen einer Sprache wird zudem von den intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes beeinflusst, zum Beispiel von der Kapazität seines Arbeitsgedächtnisses. Viele Kinder, die wir wegen Entwicklungsauffälligkeiten am Kinderspital betreuen, tun sich schwer mit den zusätzlichen Fremdsprachen in der Primarschule. Auch diese Kinder sind nicht alle von Natur aus sprachbegabt. Für mehrsprachige Kinder stellen die Fremdsprachen in der Primarschule oft eine zusätzliche Hürde dar. Und dies verschärft die ungleichen Bildungschancen, besonders für Kinder aus sozial belasteten Familien. Auch Ihr Vorgänger, der verstorbene Schweizer Kinderarzt Remo Largo, hat den frühen Fremdsprachenunterricht als «pädagogischen Irrweg» bezeichnet. Überfordern wir die Kinder? Der Druck auf Kinder ist tatsächlich groß, nicht nur beim Fremdsprachenlernen. Oft übernehmen sie diesen unbewusst, denn sie möchten unsere Erwartungen erfüllen. Besonders Mädchen stehen unter einem doppelten Stress: Sie sollen nicht nur erfolgreich und leistungsstark sein, sondern auch den immer noch tief verwurzelten Rollenerwartungen an Frauen entsprechen. Ja, die meisten denken das – Schule war doch noch nie ein Zuckerschlecken, Prüfungs- und Notendruck gab es schon immer. Doch Studien belegen das Gegenteil: Der Schuldruck hat in den letzten 20 Jahren zugenommen. Zu diesem Ergebnis kommt beispielsweise die, die zwischen 2002 und 2022 in 43 Ländern, auch in der Schweiz, durchgeführt wurde. Zudem bestätigt eine systematische Übersichtsarbeit von 52 Studien einen Zusammenhang zwischen dem steigenden Schuldruck und der psychischen Belastung. Die wissenschaftliche Evidenz ist leider eindeutig: Der Druck, der auf den Kindern lastet, macht sie krank. Ja, wir beobachten eine starke Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen. Auch Behandlungen mit Ritalin haben zugenommen. Zudem sind Angststörungen, Depressionen und andere psychiatrische Erkrankungen häufiger geworden. Die Coronapandemie hat diese Entwicklung noch verstärkt. Sie ist jedoch nicht die Ursache, sondern ein zusätzlicher Faktor in einem bereits länger anhaltenden Trend. Die Ursachen der globalen Jugendkrise unter dem Begriff Megatrends zusammengefasst. Dazu gehören die wachsende Individualisierung mit Fokus auf Selbstverwirklichung, der zunehmende Leistungs- und Wettbewerbsdruck, der steigende Perfektionismus von Menschen, der rasante technologische Wandel sowie Ängste vor der Klimakrise, den Kriegen und politischen Umwälzungen. Dafür sind dringend Massnahmen nötig – sowohl im Kleinen als auch im Grossen. Es braucht eine Entschärfung des Bildungsdrucks. Der frühe Französischunterricht muss abgeschafft werden. Die schulische Selektion muss später stattfinden. Ebenso ist eine bessere psychische Gesundheitsversorgung nötig, genauso wie gewisse Regeln für den Umgang mit digitalen Medien. Es ist auch wichtig, dass wir uns vom Anspruch der Perfektion lösen – und hier spielen vor allem Eltern und Lehrpersonen eine wichtige Rolle. Die Wertschätzung eines Kindes sollte niemals nur von seiner schulischen Leistungsfähigkeit abhängig sein. Nein, es geht nicht darum, die Kinder sich selbst zu überlassen und keine Erwartungen mehr an sie zu haben. Sie brauchen Orientierung und Strukturen, um sich gesund entwickeln zu können – und selbstverständlich sollen sie auch lesen, schreiben und rechnen lernen und etwas über die Welt erfahren. Wir dürfen dabei aber die Schule nie nur aus der Perspektive von uns Erwachsenen gestalten, sondern müssen sie auch mit den Augen der Kinder sehen
Fremdsprachenunterricht Kinderarzt Psychische Gesundheit Schulische Belastung Bildungsdruck
Switzerland Neuesten Nachrichten, Switzerland Schlagzeilen
Similar News:Sie können auch ähnliche Nachrichten wie diese lesen, die wir aus anderen Nachrichtenquellen gesammelt haben.
Kanton Zürich: Frühfranzösisch könnte bald abgeschafft werdenZürcher Parteien fordern die Abschaffung des Frühfranzösischs in Schulen. Das spätere Einsetzen des Französischunterrichts soll Lernergebnisse verbessern.
Weiterlesen »
Eigenmietwert-Abschaffung führt wohl zu mehr SchwarzarbeitEntfällt der Steuerabzug für Renovationskosten, sinkt das Interesse an sauberen Rechnungen. Dadurch wächst die Schattenwirtschaft gemäss einer Schätzung um eine halbe Milliarde Franken.
Weiterlesen »
Abschaffung des Eigenmietwerts: Schattenwirtschaft droht zu wachsenDas Schweizer Parlament hat sich für einen Systemwechsel zur Abschaffung des Eigenmietwerts entschieden. Hausbesitzer müssen künftig keine fiktive Miete mehr versteuern. Im Gegenzug sollen sie Unterhaltskosten und Schuldzinsen nicht mehr von den Steuern abziehen dürfen. Experten befürchten, dass diese Reform die Schattenwirtschaft verstärken könnte.
Weiterlesen »
Eigenmietwert-Abschaffung: Bergkantons-Präsidentin kritisiert ParlamentDas Parlament mache es sich zu einfach, kritisiert die Bündner Regierungsrätin Carmelia Maissen. Die Einnahmenausfälle träfen die Bevölkerung direkt.
Weiterlesen »
Gebirgskantone gegen Eigenmietwert-AbschaffungDie Gebirgskantone in der Schweiz lehnen die Abschaffung des Eigenmietwerts ab, obwohl sie von den daraus resultierenden Einnahmenverlusten stärker betroffen wären. Der Text befasst sich mit den Gründen für den Widerstand der Kantone und den potenziellen Folgen des Systemwechsels.
Weiterlesen »
Fast 90 Prozent der Schweizer sind gegen Abschaffung von BargeldFast 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind gegen die Abschaffung von Bargeld. Im Jahr zuvor waren es noch 72 Prozent, wie die Edelmetall-Studie 2024 vom Edelmetallhändler Philoro zeigt.
Weiterlesen »