Bei einem Brand in Chur im Jahr 1989 starben vier Menschen aus Sri Lanka, darunter zwei Kinder. Unsere Recherchen zeigen: Es war ein Anschlag. Doch die Polizei hat nie nach den Mördern gesucht.
Die beiden Brüder waren unzertrennlich. Sie spielten Fussball, badeten abends mit extra viel Schaum und assen lieber Spaghetti als das tamilische Chicken ihrer Mutter. Ihre Namen waren Balamurali und Balamugunthan.
Der Jüngere, Mugunthan, fühlte sich immer ein wenig benachteiligt. Er befürchtete, seine Eltern liebten die kleine Schwester mehr als ihn. Doch Mugunthans Angst war unbegründet: Sie liebten jedes ihrer drei Kinder gleich fest, bedingungslos, von ganzem Herzen.Am 2. Juli 1989, in der Nacht von Samstag auf Sonntag, wurden die beiden Buben in Chur getötet. Ein Feuer verwüstete die Asylunterkunft, in der sie schliefen. Sie erstickten am Kohlenmonoxid.
Wenn wir bisher an rechtsextreme Anschläge dachten, dann an Anschläge in Deutschland, etwa den in Solingen, bei dem im Mai 1993 zwei Erwachsene und drei Kinder getötet wurden. Ein Mahnmal erinnert an die Tat, Strassen wurden nach den Opfern benannt, der deutsche Bundespräsident hielt 2023 zum dreissigsten Jahrestag eine Gedenkrede. Es gibt Bücher über Solingen, Filme, Schulmaterial, sogar ein Hörspiel und Popsongs.
In der hellen Wohnung im ersten Stock setzen wir uns an den Holztisch, auf dem schon die Unterlagen bereitliegen, die Padrutt für uns aus dem Keller geholt hat. Es sind seine Notizen zum Brand von Chur. Wir lassen den Kaffee kalt werden und stürzen uns stattdessen auf die sorgfältig geordneten Blätter. Padrutt und sein Kollege trugen damals Hinweise zusammen, die auf einen Anschlag aus der rechtsextremen Szene hinweisen.
Es soll ein feierlicher, ein friedlicher Abend gewesen sein. Fünfzehn Tamilen versammelten sich an jenem Samstag in der Viereinhalb-Zimmer-Wohnung im Obergeschoss, der Rest des Hauses stand leer. Die Gäste waren aus verschiedenen Kantonen angereist. Ursprünglich kamen die meisten aus demselben Dorf in der Nähe der Stadt Jaffna und waren auf die ein oder andere Art miteinander verwandt.
Zwei Männer trauten sich nicht zu springen, der achtzehnjährige Saththivel Thambirajah und der vierzigjährige Thevarajah Sinnethamby. Ihre Körper verbrannten bis zur Unkenntlichkeit. Die beiden Buben Murali und Mugunthan erstickten in ihren Betten. Wahrscheinlich im Schlaf.
Niemand aus der Nachbarschaft hatte eine Leiter, die lang genug gewesen wäre, um in den ersten Stock zu reichen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Feuerwehr kam, aber für Margarethe Sauter fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Danach tat sie das Einzige, was sie noch tun konnte – ihren Job. Sie holte ihre Kamera und dokumentierte. Auch für die Zeitung, aber nicht nur deshalb. Denn für sie sei schon im ersten Moment klar gewesen: «Mord.
In Thun war die Unterscheidung, oder eher Diskriminierung, bereits real. Die tamilischen Geflüchteten bekamen von den Behörden, anders als andere Asylbewerber, keine Schweizer Franken, sondern sogenannte. Das waren Münzen, die aussahen wie Spielgeld und mit denen sie in den lokalen Läden einkaufen mussten.
Die Aufnahmen, die Margarethe Sauter machte, erschienen am nächsten Tag im «Bündner Tagblatt» – die Negative hat sie vor ein paar Jahren verschnitten. Es war ein symbolischer Akt, um die Bilder nicht länger mit sich herumtragen zu müssen. Schweigen, so hat die Familie Kandiah versucht, mit dem Schmerz umzugehen. Dass ihre Brüder gestorben sind, hätten ihr die Eltern nie gesagt, irgendwann habe sie es einfach gewusst, erzählt Mena Nirozan. Nachdem sie aus dem Spital in Chur entlassen worden war, fuhren sie zu dritt zurück nach St. Gallen. Als sie die Wohnung betraten, rissen ihre Eltern als Erstes alle Bilder der hinduistischen Götter von den Wänden.
Sie schweigt und schaut auf ihre kunstvoll lackierten Fingernägel. «Das zu hören, ist hart», sagt sie schliesslich. «Es macht mich sehr traurig.» Fragen stellt sie keine, stattdessen denkt sie nach und sagt dann. «Ich habe die Schweiz nie als rassistisches Land erlebt, wurde nie diskriminiert, ja nicht einmal beleidigt. Und jetzt das.»
Im selben Jahr, in dem Murali und Mugunthan ihr Leben liessen, wird in Fribourg Mustafa Yildirim, vierundvierzig Jahre alt, Kurde und Vater von drei Kindern, von einem rassistischen Lehrling zu Tode geprügelt. 29. November 1988, Klosters-Selfranga: Brandanschlag auf ein Bundesasylzentrum, in dem sechs Hilfsarbeiter untergebracht sind. Sie überleben unverletzt. Später geht bei der Polizei ein anonymer Anruf ein: «Wir machen weiter.» Unterstützerinnen von Asylsuchenden erhalten anonyme Drohbriefe, sie enden mit «PS: Ihre Wohnung könnte das nächste Objekt sein.» Täterschaft unbekannt.2.
Die Polizei bildete im Fall Alexanderstrasse eine Sonderkommission. Sie befragte zehn der tamilischen Flüchtlinge, die den Brand überlebt haben, zwei Männer, die den Brand gemeldet hatten, einen für die Wartung zuständigen Elektromonteur, den Inhaber der Garage im Parterre und eine Person, die etwas Verdächtiges meldete. Insgesamt sprach die Polizei mit weniger Menschen, als wir für diese Recherche befragt haben.
Wir stellen konsterniert fest: Die Strafverfolgungsbehörden haben gar nicht erst im rechtsradikalen Milieu ermittelt. Ja, sie taten überhaupt wenig, um den Fall aufzuklären. Zwei Tage nach dem Brand meldete ein Anwohner, der sein Auto in der Seitengasse zur Alexanderstrasse geparkt hatte, dass ihm Benzin aus dem Tank gestohlen wurde. Ein Putzlappen stecke in der Tanköffnung, der Tankdeckel sei unauffindbar. «Warum haben sie keine Fingerabdrücke vom Auto genommen?», fragt Tarnutzer laut.
Tarnutzer sucht in den Unterlagen nach Erklärungen. Dann wird er plötzlich still. Beginnt vor- und zurückzublättern. Wechselt immer wieder zwischen den gleichen zwei Seiten, bis er schliesslich leise sagt:Er deutet auf zwei Daten: Am 10. Oktober 1989 schickten die Zürcher Forensiker den Bericht mit dem Fazit: «Brandstiftung im Vordergrund.» Am 5.
Etwas ist uns wichtig zu betonen: Die Bündner Kantonspolizei arbeitete damals nicht generell schlecht. Andernorts im Kanton wurde zur gleichen Zeit gute und gründliche Arbeit geleistet. Das beweisen die Akten zum Brandanschlag im November 1988 auf das Asylzentrum in Klosters. Anderntags holen wir uns in einem Laden neben dem Büro eine Suppe und fassen während des Mittagessens zusammen, was wir in den vergangenen Wochen herausgefunden haben.
Doch etwas verstehen wir bis heute nicht: Warum arbeitete sowohl die Polizei als auch die Staatsanwaltschaft in Chur so nachlässig? Weshalb griff das Kantonsgericht als Beschwerdeinstanz nicht korrigierend ein? An einem sonnigen Donnerstagmorgen wartet Helena Graf, die mittlerweile pensioniert ist und das Haar kurz trägt statt in langen Locken, am Bahnhof St. Gallen. Sie fährt uns mit dem Auto an den Stadtrand, zum Haus der Kandiahs. Als Mutter Vasanthi die Tür öffnet, fallen sich die beiden Frauen in die Arme, auch die Begrüssung mit Siva, dem Vater, ist herzlich. Tochter Mena ist bei der Arbeit, die Grosskinder sind in der Schule.
Bevor wir uns auf die Rückfahrt machen, möchte uns Vasanthi Kandiah zwei Sachen zeigen. Sie schiebt den Ärmel hoch: «Hier.» Auf ihrem Unterarm sind in geschwungenen Buchstaben die Namen von Murali und Mugunthan tätowiert. «Auf der Seite meines Herzens», sagt sie. Damir Skenderovic schüttelt fassungslos den Kopf, als wir ihm in einem Café in Zürich davon erzählen. Überrascht ist er allerdings nicht. Als Historiker stellt er den Fall in einen grösseren Kontext. Die Art und Weise, wie Chur mit dem Brandanschlag umgehe, sei symptomatisch: «In der Schweiz wird seit jeher so getan, als habe man kein Problem mit Rechtsextremismus.»der einzige Historiker hierzulande, der systematisch zu Rechtsextremismus nach 1945 forscht.
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