Im Todesfall der Tamilin Kowsika kam es zu einem Urteil gegen Gefängnisaufseher – aber damit sind längst nicht alle Fragen geklärt.
Die vier Gefängnisaufseher, die eine Viertelstunde lang nichts taten, nachdem sich die Tamilin Kowsika in ihrer Zelle erhängt hatte, sind schuldig. Fahrlässige Tötung durch Unterlassen – so urteilt das Appellationsgericht Basel. Doch damit sind längst nicht alle Fragen geklärt.Das Bild friert zwischendurch ein, das Mikrofon knackt, aber die Verbindung steht. Die grossen braunen Augen der Frau am andern Ende blicken angestrengt.
Kowsika hat keine Ahnung, was mit ihr geschieht. Obwohl das Gesetz es so vorsieht, erklärt ihr niemand in einer ihr verständlichen Sprache, weshalb sie festgehalten wird. Während ihrer mehr als drei Tage dauernden Haft in zwei Gefängnissen wird keine Dolmetscherin zugezogen, obwohl die zuständigen Beamten mehrmals festhalten, dass die Kommunikation mit ihr nicht möglich sei.
Doch um all diese Fehler geht es nicht an der dreitägigen Verhandlung am Appellationsgericht Basel – sondern einzig um das Verhalten der vier Aufseher, die Kowsika nach ihrem Suizidversuch vom Strang schnitten und ihr eine Viertelstunde lang nicht halfen.
Die Vorsitzende will wissen, ob es normal sei, dass zwischendurch niemand auf die zwei Monitore mit je acht Bildern von 200 Kameras geschaut habe. «Nur kurze Zeit», so die Antwort. Unterdessen werde die Überwachung aber zu zweit gemacht, sagt der Angestellte. Und dann etwas Stossendes: Kowsika sei nicht als suizidgefährdet bei ihm angemeldet worden.
Das generelle Risiko eines Suizids wird entgegen jeder Statistik als «gering» eingestuft. Besonders bestimmte Personengruppen würden ausserdem dazu neigen, einen Suizid vorzutäuschen: «Dieses weitverbreitete Verhaltensmuster mit erpresserischem Charakter wird oft als Mittel zum Zweck angewandt.» Nein, sagt das Gericht. Insbesondere die Annahme, dass Kowsika simulierte, lässt die Vorsitzende während der mündlichen Urteilsverkündigung nicht gelten. Schliesslich hing Kowsika am Strick, als die Aufseher dazukamen: «Das war kein simulierter Selbsttötungsversuch, sie hing» – entsprechend sei es vorhersehbar gewesen, dass sie danach sterben könnte.
Dass Kowsika überlange festgehalten wurde, ohne dass man ihr erklärte, was mit ihr geschieht; im Gefängnis Waaghof fast zwei Tage lang unentwegt geschrien hat, mehrmals die Notfallklingel betätigte, ohne erhört zu werden, reiche nicht aus, um einen wohlüberlegten Bilanzsuizid auszuschliessen, so die Verteidigung. Dafür brauche es ein Gutachten.
Doch bevor wir zu seinen Aussagen kommen, ein kurzer Ausflug in die Rechtstheorie, denn im Zentrum der Verhandlung gegen die vier Aufseherinnen steht eine endlos diskutierte juristische Frage – wie der hypothetische Kausalzusammenhang zu bewerten ist. In der Schweiz gilt: Wer eine gebotene Handlung unterlässt, kann sich strafbar machen. Aber nur wenn die gebotene Handlung das Unglück mit hoher respektive überwiegender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte.
Die Verteidigung der vier Aufseherinnen stellt sich in der Folge auf den Standpunkt, der Gutachter widerspreche damit den Aussagen, die er erstinstanzlich gemacht hatte. Für die Anwälte Rambert und Stolkin, die Kowsikas Schwester und Mutter vertreten, ist das nur ein Etappensieg. Der Schuldspruch eröffnet die Möglichkeit einer Staatshaftungsklage. Für sie ist klar: Die vier Aufseherinnen sind nicht die Einzigen, die Kowsikas Tod zu verantworten haben.«Wir beurteilen hier den Moment, in dem das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist», sagt die vorsitzende Richterin Christ in der Urteilsverkündung.
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