Die Chancen bei der US-Wahl stehen 50:50. Gut möglich, dass die freie Welt in ein paar Tagen kippt. Wie konnte das passieren?
Die Chancen bei der US-Wahl stehen 50:50. Gut möglich, dass die freie Welt in ein paar Tagen kippt. Wie konnte das passieren?Die bisher sicherste Erkenntnis aus dem US-amerikanischen Wahlkampf ist: Die Welt, in der wir aufwuchsen, existiert nicht mehr. Was kommt, ist nicht abzusehen. Und wir sind nicht darauf vorbereitet.
Ohne Beispiel ist auch, dass keine Schlagzeile, kein Skandal, keine Statistik nennenswert die Umfragen bewegt. Eine strafrechtliche Verurteilung nicht. Die Schaffung von so vielen Arbeitsplätzennicht. Die Senkung des Leitzinses nicht. Ein Kantersieg bei der Präsidentschaftsdebatte nicht. Zwei Attentate nicht. Offensichtliche Lügen nicht. Enthüllungen? Vergiss es.
Vor allem wäre der US-Wahlkampf als Szenario für einen Superschurken-Comic ohne Änderung übernehmbar: Ein lebenslanger Serienkrimineller kandidiert schon zum dritten Mal für das mächtigste Amt der Welt. Mit dem erklärten Ziel, sich für die Niederlage beim zweiten Mal zu rächen. Trumps Vize J. D. Vance wuchs in Armut auf, ging nach Yale, schrieb einen Bestseller darüber, wurde in der Finanzbranche Multimillionär – als Zögling des Investor-Milliardärs Peter Thiel, der von einer Unternehmerdiktatur und der Unsterblichkeit besessen ist. Heute ist Vance der wichtigste Verbindungsmann zu konservativen Visionären und Thinktanks, die für eine zweite Trump-Präsidentschaft Pläne ausgearbeitet haben.
Wer Politik als Schlachtfeld von Ideen oder Weltanschauungen sah, entpuppte sich als Dilettantin. Klar, es gab verschiedene Lager, klar, man musste zwecks Verkaufs gelegentlich dem Ideologieaffen Zucker geben – schon weil es zum Handwerk der Politik gehörte und eine Bedingung war, um wahrgenommen zu werden. Aber sobald die Scheinwerfer erloschen, zählten die unvereinbaren Positionen meist weniger als die gemeinsame Profession.
Es ist die Wahl zwischen einer Kandidatin und einem Kandidaten, der seinen ganzen Wahlkampf lang versprach, zurück im Amt Rache an seinen Gegnern zu nehmen. Der sie als «Feind im Inneren», der angeklagt ist, einer Stripperin in Las Vegas eine Abtreibungspille in ihren Fruchtsaft gemischt zu haben.
Fakten. Zitate. Alle Seiten mit ihren besten Argumenten, ohne Wertung, in gleicher Länge. Der ideale Reporter arbeitet wie ein Roboter. Klinisch sauber.Wegen der strengen Trennung zwischen Tatsachen und Meinung galten die grossen amerikanischen Zeitungen über Jahrzehnte als die besten der Welt. Sie standen für. Unbestechlich – auch den eigenen Vorurteilen gegenüber. Sie zeigten die Welt, wie sie ist.
Für den 30 Jahre dauernden Aufstieg der radikalen Rechten in der Republikanischen Partei erwies sich der klinisch saubere Journalismus nicht als Desinfektionsmittel, sondern als Petrischale: Er war ein fruchtbarer Nährboden für eine Politik der Desinformation. Weil jeder Irrsinn, jede Unterstellung, jede Lüge in derselben Länge und Ernsthaftigkeit wie das Dementi rapportiert wurde.
Genauer: Alle waren offensichtlich wenig wert. Denn um welches Thema es auch immer ging – es waren nur Fleischstücke für den ewigen, Abend für Abend stattfindenden Schaukampf der Pitbulls. Denn in der republikanischen Propaganda stecken 30 Jahre Versuch und Irrtum. Und die haben sich leider gelohnt. Auch dank Trump wurde immer mehr Überflüssiges entdeckt, was weggelassen werden kann, ohne dass die Wirkung abnimmt: Zusammenhänge, Erklärungen, Beweise, Widerspruchsfreiheit, Plausibilität, das Bemühen, seriös oder sympathisch zu wirken.
Sei ein freier Mensch! Und wechsle systematisch die Seite. Um 9 Uhr beklagst du den Mangel an Ordnung, Sitte, Tradition, um 9.30 Uhr feierst du den nackten Opa im Frauenbad als Kämpfer gegen das System. Iss um 12 Uhr deine Suppe als Verteidiger alles Normalen und um 12.30 Uhr dein Dessert als exzentrischer Aussenseiter. Beklage beim Abendessen dein Schicksal als politisch Verfolgter und drohe noch vor Mitternacht mit der Staatsgewalt.
Hau viel Zeug raus und schnell. Verschwende keine Zeit mit Details. Spring zu was Neuem. Sie werden nicht mehr aus dem Dementieren herauskommen. Du bist uneinholbar, sie sind müde.Es brauchte mehrere Politikergenerationen Evolution, um das Rezept idiotensicher und -tauglich zu machen. George W. Bush gewann die Wahlen im Jahr 2000 zwar nur durch ein Gerichtsurteil und mit 537 Stimmen in Florida. Aber er regierte mit der Radikalität eines Erdrutschsiegs.
Das änderte sich dramatisch nach dem Scheitern im Irak, dem Beinahe-Zusammenbruch des Bankensystems bei der Finanzkrise und der Wahl von Barack Obama, dem ersten schwarzen Präsidenten. Die von empörten Milliardären finanzierte «Tea Party» schwemmte einen neuen Typ von Abgeordneten ins Parlament – Leute, die stolz darauf waren, keine Politiker zu sein und keine werden wollten.
Kein Wunder, hielten ihn die republikanischen Wähler für den ehrlichsten Mann. Während seine Konkurrenten Karrierepolitiker waren, brach Trump Tabus wie andere Leute atmeten.Und dadurch völlig unfassbar durch die Profis in Politik und Presse. Seine Rivalen attackierten ihn, die Medien schreiben bis heute über ihn, als wäre er ein herkömmlicher Politiker.
Trump ist ein Schurke. Kein Mensch von Verstand würde ihn auch nur seine Katze hüten lassen. Geschweige denn eine Supermacht. Trotzdem stimmen in Amerika Millionen für einen chaotischen Karrierekriminellen als Präsidenten, und im Westen verehren Millionen einen Papiersätze redenden, blutigen Zwerg als Symbol der Stärke – und nicht wenige darunter sehen die beiden auch noch als persönlichen Retter: Das zeugt von einem kollektiven Zusammenbruch der Urteilskraft.
Was individuell beispielsweise heisst: Man spielt auf dem Handy Patiencen, um lösbare Probleme zu haben. Oder man ärgert sich über die Klimakleber und erklärt die Grünen zu Superschurken, um lösbare Probleme zu haben. Und in bösen Zeiten ist der Mangel an Kompass keine harmlose Sünde mehr. Menschen ohne verwandeln sich. So als hätten sie keinen Verstand und keine Ehre.Wie aber orientiert man sich in einer Welt, die wieder aus Gut und Böse besteht – oder genauer gesagt: aus Unvorbereitet und Böse?Was bei der radikal rechten Propaganda nicht zählt, sind die einzelnen Tabubrüche, Klagen, Geschmacklosigkeiten.
Die radikale Rechte ist damit die einzige politische Strömung, die eine klare Strategie hat: Sie muss genug Nerven, Vertrauen, Institutionen zerstören – um nach dem Zusammenbruch an die Macht zu kommen. Dort warten fette Töpfe auf sie. Und sie erreichten weit mehr als erwartet: die grössten Infrastruktur-, Umwelt-, Sozialpakete seit 50 Jahren. Und das trotz rasierklingendünner Mehrheit. Dazu eine internationale Koalition gegen Russland. Eine präzise Aufarbeitung des Putschversuchs am 6. Januar.
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